Wenn es EINE Übung gibt, die ich allen (also nicht nur Autor:innen) empfehle, ist es „Automatisches Schreiben“ oder „Freewriting“. Beide Begriffe werden verwendet und meinen eine fast traditionelle aber wirkungsvolle Übung, mit der du mindestens deine Kreativität trainierst. Und noch viel mehr …
Übrigens: Falls du mehr Auswahl an kreativien Übungen suchst, schau mal bei meinen 30 Übungen für Kreatives Schreiben rein. Und vielleicht ist auch das Brain Dumping für dich eine gute Lösung. Da geht es mehr um das Organisieren von Gedanken – mit einer verwandten Technik.
Zurück zum Thema: Wenn du googelst, findest du das auch als „Wildes Schreiben“, „Freies Schreiben“ oder „Assoziatives Schreiben“. Egal: Automatisches Schreiben / Freewriting ist eine mehr als 100 Jahre alte Technik, mit der Psychologen an das Unbewusste ihrer Patienten und Künstler an ihre Kreativität gelangen. Und beides kann für dich nützlich sein.
Hintergrund: die Psychologie hinter Freewriting
Schauen wir uns die Quelle des Automatischen Schreibens an. Hier begegnen wir dem Psychotherapeut Pierre Janet, der schon 1889 Versuche mit Patienten unternahm, die im Halbschlaf, in Trance oder unter Hypnose schreiben sollten. Kamen sie in einen Schreibfluss, offenbarten sie mit dem Stift so einiges, was bislang im Unbewussten verschüttet war. Damit konnte der Therapeut dann arbeiten.
Die Leistung von Pierre Janet wird umso erstaunlicher, da der Übervater aller Psychologie, Sigmund Freud, das Unbewusste zur damaligen Jahrhundertwende überhaupt erst bekannt machte.
Wie auch immer: Pierre Janes wurde mit dank dieser Übung nicht nur zum Begründer des Écriture automatique, sondern auch der Gründer eines „neuen Systems der dynamischen Psychiatrie“ und sein Werk zu einer der Hauptquellen für Freud, Alfred Adler und C. G. Jung.
Auch interessant und beachtet war im Jahr 1903 der Fall von Daniel Paul Schreber, der Sohn des Erfinders der Schrebergärten (kein Witz!). In diesem Jahr veröffentlichte Schreber nämlich sein Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ – geschrieben hat er es mit der Technik des Automatischen Schreiben. Das Buch enthält Schrebers Sicht auf seine eigene Psychose, gräbt tief in seinem Unbewussten und gilt als umfassende Fallstudie für die nachfolgenden Psychologie-Generationen. Seine Erkrankung hat er wohl seinem Vater, einem Hauptvertreter der „Schwarzen Pädagogik“, zu verdanken, der seine Kinder mittels orthopädischer Geräte zu „gesunder Haltung“ trainierte. Ich weiß allerdings nicht, ob das vor oder nach der Erfindung von Kleingartenanlagen war und wie das miteinander zusammenhängt.
Übrigens ist hier der Unterschied zwischen Freewriting und Automatischem Schreiben erkennbar:
- Automatisches Schreiben, damals als Psychographisches Schreiben bekannt, versucht, ohne bewusste Kontrolle die Bewegungen der Hand oder des Schreibgeräts zu steuern. Dies wird oft im Kontext von spiritistischen Sitzungen oder in der künstlerischen Welt verwendet, um kreative Inspiration zu fördern.
- Beim Freewriting ist der „Kontrollverlust“ nicht bei den Bewegungen der Hand, sondern beim Loslassen der bewussten Kontrolle über den Inhalt. Das ist fast identisch, aber für detailverliebte Menschen vielleicht wichtig.
Geschichtliches Vol. 2: die Literatur
Weiter ging es mit dem Automatischen Schreiben dann im Paris. Einige Surrealisten um Andé Breton stürzte sich in den 1920er-Jahren auf diese Methode und füllten ganze Bücher mit dem Ergebnis des Écriture automatique. Ich glaube nicht, dass diese Werke heute noch zur Unterhaltung dienen. Aber die Anweisungen Bretons sind interessant, die er 1924 in sein „Surrealistisches Manifest“ aufnahm:
„Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist so weit wie möglich auf sich selbst konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen. Machen Sie sich klar, dass die Schriftstellerei einer der kläglichsten Wege ist, die zu allem und jedem führen. Schreiben Sie schnell, ohne vorgefasstes Thema, schnell genug, um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen. Der erste Satz wird ganz von allein kommen, denn es stimmt wirklich, dass in jedem Augenblick in unserem Bewusstsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. (…) Fahren Sie so lange fort, wie Sie Lust haben. Verlassen Sie sich auf die Unerschöpflichkeit des Raunens. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, weil Sie auch nur den kleinsten Fehler gemacht haben: einen Fehler, könnte man sagen, der darin besteht, dass Sie es an Unaufmerksamkeit haben fehlen lassen – brechen Sie ohne Zögern bei einer einzuleuchtenden Zeile ab. Setzen Sie hinter das Wort, das Ihnen suspekt erscheint, irgendeinen Buchstaben, den Buchstaben l zum Beispiel, immer den Buchstaben l, und stellen Sie die Willkür dadurch wieder her, dass Sie diesen Buchstaben zum Anfangsbuchstaben des folgenden Wortes bestimmen.“
Das klingt sehr ausgefeilt und ist überaus kompliziert. Meine Versuche, es nach diesen Anweisungen zu versuchen, sind jedenfalls gescheitert. Es kam keine Literatur dabei heraus 🙂
Wie auch immer: Irgendwann ist das Automatische Schreiben aus der Psychologie und aus der Literatur verschwunden. Erst in den Jahren vor der Jahrtausendwende gab es gelegentlich Hinweise darauf, dass große Autor:innen ihre Schreibhemmung mit dieser Methode überwunden haben.
Versprochen: Du musst nicht nervenkrank sein oder unter einer Schreibhemmung leiden, um aus dem Freewriting und dem Automatischen Schreiben deinen Nutzen ziehen zu können. Im Gegenteil: Ein gesunder Mensch kann beim Blick in sein Unbewusstes sehr viel Kreativität und vermutlich noch mehr entdecken.
Anleitung zum Freewritings / Automatischen Schreiben
Das Schöne daran ist – wie bei allen wirklich großen Übungen – die Einfachheit. Bevor du startest, eine Bitte: Nimm dir fest vor, die Technik für einige Tage regelmäßig zu üben. Nur, wenn du der Routine eine Chance gibst, wirst du davon profitieren können. Also investiere in den nächsten ein bis zwei Wochen täglich mindestens zehn Minuten. Und urteile dann.
So geht das Automatische Schreiben / Freewriting:
- Leg ein Stück Papier, ein hübsches Schulheft oder ein Notizbuch auf den Tisch und nimm einen Stift zur Hand. Ja: kein Bildschirm, keine Tastatur!
- Stelle am Anfang einen Wecker auf fünf Minuten. Erhöhe nach einigen Tagen auf 10 Minuten. Später kannst du gerne auch länger schreiben. Momentan bleibe in diesem Zeitrahmen.
- Und nun: Schreib! Möglichst schnell. Versuche, in der kurzen Zeit so viele Wörter aufs Papier zu bringen wie möglich. Schreib, was dir durch den Kopf geht. Wenn du dich fragst, was du schreiben sollst, schreibe, dass du dich fragst, was du schreiben sollst. Denke nicht über Komma-Regeln oder unfertige Sätze nach. Schreib! Los!
- Wenn die Zeit vorbei ist, bist du fertig. Lass den Stift fallen und höre auf zu schreiben. Mach einen Spaziergang, etwas zu Essen oder rauche eine Zigarette. Egal. Hauptsache, du hörst auf zu schreiben. Es ist außerdem hilfreich, , nicht sofort wieder in den „produktiven“ Tag einzusteigen. Aber, wenn es nicht anders geht, dann kannst du auch das tun.
Das ist schon alles. Mehr musst du nicht tun. Einmal am Tag hast du einen Termin mit deinem Stift, dem Papier und deinem Wecker. Und danach geht dein bisheriges Leben wieder weiter.
Natürlich sind die Text-Ergebnisse aus literarischer Sicht zunächst zweifelhafter Natur. Selbst, wenn du es selbst noch lesen kannst – für die Öffentlichkeit sind die Ergebnisse solcher Schreib-Meditationen nicht geeignet. Es gibt keinen Einstieg, keinen roten Faden, nur viele Wörter und eine Menge Fehler. Egal! Es geht um den Weg und nicht um das Ziel. Du trainierst damit deinen Schreibmuskel und bietest deinem kreativen Unbewussten ein Ventil an.
Schreiben, schreiben, schreiben – dann kommt die Kreativität von allein
Wichtig bei dieser Übung sind Regelmäßigkeit, Umgebung und eine klare Zeiteinteilung.
- Eine ungestörte und vielleicht immer gleiche Umgebung hilft dir, dich auf das Schreibmuskeltr…
Der „Contentman“ hier und mein Newsletter dort sind meine Spielwiesen und digitale Chancen, meine Gedanken auszudrücken. Lange Jahre war ich Journalist – habe also vielleicht ein bisschen Tinte in meinem Blut. Mein Geld verdiene ich als Produktentwickler im Wort & Bild Verlag. .
Kommentare
4 Antworten zu „Automatisches Schreiben / Freewriting: Anleitung und Erfahrungen“
Toller Artikel und ein super Tipp! Danke dafür. Ich werde das heute Abend gleich mal testen. Wenn man das in einem extra Schreibheft unterbringt, dann kann man sogar kontrollieren, wie sich seine Fähigkeiten mit der Zeit verbessern. Da bin ich sehr auf die Ergebnisse gespannt.
Interessanter Artikel! Ich habe das gerade ausprobiert und meine ersten 5 Minuten intensiv geschrieben. Die Zeit verging wie im Flug und ich hätte gerne noch mehr geschrieben. Hab ca. eine halbe bis dreiviertel A4-Seite geschafft. Ich bin gespannt, ob es in den kommenden Tagen mehr wird. Und vor allem, ob ich mit mehr Kreativität schreiben werde.
Es ist erstaunlich. Meine Kopf denkt, aber meine Hand schreibt etwas anderes. Es ist, als weigere sich meine Hand die gedachten Wörter so aufzuschreiben. Die Schrift sieht nicht schön aus. Und ich habe bemerkt, dass ich oft das gleiche schreibe. Es ist äusserst merkwürdig. Als schreibe ich etwas auf, was Jemand anderes erlebt hat. Meine zweite Woche beginnt und ich mache weiter….
Steffi, fein, dass du diese Übung machst. Bedenke aber, dass dies natürlich keine Magie oder so ist. Wenn du ein ungutes Gefühl hast, dann ist es vielleicht eine gute Idee, mal eine Pause einzulegen. Und vielleicht auch mit jemandem über diese Erlebnisse zu sprechen. Nichts, also auch das Automatische Schreiben, kann das Gespräch mit einem klugen Menschen ersetzen. Ok?