#herrjeh! Im Laufe der Recherche zu dem Artikel habe ich hundertmal den Faden verloren, ein Hörbuch bestellt, eine App abonniert und mehr Zeit mit Ablenkungen verdaddelt als mit dem Schreiben. Hat sich das gelohnt? Das kannst du (bei mittlerer Lesedauer) in etwa 14 Minuten beurteilen – falls du den Text zu Ende liest. Doch Vorsicht: 14 Minuten Aufmerksamkeit sind eine Herausforderung für moderne Menschen. Glaubst du nicht? Dann lies!
Warum Aufmerksamkeit wichtiger ist als Achtsamkeit, Konzentration und gelerntes Wissen
Habe ich nun deine ungeteilte Aufmerksamkeit? Vermutlich. Es ist wahrscheinlich, dass du Achtsamkeit, Konzentration und Wissen als wichtige Voraussetzungen für Erfolg anerkennst. Und ich behaupte nun, dass es wichtiger ist, Aufmerksam zu sein.
Doch Stopp: Ich will ich erklären, wie ich darauf gekommen bin.
Letztlich haben mich meine Klient:innen in der Coaching- und Therapie-Praxis darauf gebracht. Sie kommen mit unterschiedlichen Träumen, Ideen und Problem und sind entschlossen, etwas in ihrem Leben zu erreichen. Etwa ein besserer Job, die Bewältigung von schwierigen Beziehungen oder mehr Glück (= weniger Unglück). In vielen Fällen umkreisen wir dann das Ziel, suchen nach den Auslösern für Blockaden und krempeln die Ärmel hoch, um daran zu arbeiten.
Heute gibt es für all das gut erforschte Ansätze: systemische Methoden, Gesprächspsychotherapie, Traumdeutung, Waldbaden, Verhaltenstherapie und natürlich Achtsamkeit. Einige davon eignen sich für die Arbeit in der Praxis, andere benötigen Übung und das Erledigen von Hausaufgaben.
Was mich regelmäßig irritiert: Selbst entschlossene Klient:innen halte die Übungen und Hausaufgabe meist nur kurze Zeit durch. Zwar dauert ein täglicher Achtsamkeitsimpuls gerade mal drei Minuten – doch nur üben das länger als eine Woche. Ach, wenn sie wissen, WARUM und WIE das wirkt. Wieso? Selbst im Berufsleben erfolgreiche Klient:innen, die ein Studium bewältigt haben und eine Firma leiten können, haben keinen Platz für 20 Minuten tägliche Auszeit – obwohl sie wissen, dass sie damit ihr Betriebssystem auf dem aktuellen Stand halten. Sie wissen um die Notwendigkeit von Meditation oder Automtischem Schreiben – verzichten darauf aber zugunsten von Herumblättern in Nachrichten oder Social Media. Was ist da los?
Verweigerung von wohltuenden Übungen: Was ist da los?
Das kann natürlich am „Prinzip Hausaufgaben“ liegen: Wenn Klient:innen ein Hierarchie-Thema haben (und das ist ja nicht selten bei kreativen Köpfen) wollen sie sich schlicht nichts sagen lassen und blockieren bei jeder Aufgabe grundsätzlich. Das ist – natürlich – ein legitimes Verhalten und gibt mir Stoff, an dem wir arbeiten können.
Doch diese Erklärung für die Nichterledigung der Hausaufgaben ist doch eher die Ausnahmen. Die größte Gruppe klagt darüber, dass sie die Übungen zwar mit Eifer ausprobiert haben – aber sie dann vergessen haben. „Tut mir echt leid, aber ich habe so viel anderes zu tun“, ist die übliche Erklärung. Und: „Obwohl gerade das so wichtig wäre!“, lautet ihr häufigster Nachsatz.
Da bucht jemand für gutes Geld einen Coach aber findet keine drei Minuten am Tag, um an sich zu arbeiten? Das ist – seltsam. Ich denke, da sind unbewusste Kräfte am Werk. Vielleicht ist es ein Thema mit der Energie: Es ist anstrengend, sich mit sich selbst zu beschäftigen und (auch schlechte) Gewohnheiten zu ändern. Jede Ablenkung wird dann als willkommen begrüßt. Es gibt Untersuchungen, in denen allein das Vorhandensein eines Handys im Sichtbereich die Aufmerksamkeit für andere Dinge reduziert.
Es geht hier also nicht um das Nicht-Wollen oder Nicht-Können – sondern um die große Kraft die es kostet, Ablenkungen aus dem Weg zu kommen. Es geht also darum, aufmerksam bei dem zu sein, was man gerade tun will.
Woher diese Ablenkungen kommen
Es fehlte also an der Aufmerksamkeit oder besser gesagt an der Steuerung der Aufmerksamkeit auf die wichtigen Dinge. Konzentration ist anstrengend – kurz mal die Mail zu checken dagegen ist leicht.
Von Ablenkungen sind wir ständig umgeben. Am besten weiß das der Autor Nir Eyal, der vor einigen Jahren in seinem Bestseller „Hooked: Wie Sie Produkte schaffen, die süchtig machen“ Unternehmen erklärt hat, wie sie die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf sich ziehen. Und er hat vor Kurzem mit „Die Kunst sich nicht ablenken zu lassen“ einen weiteren Bestseller geschrieben, in dem er genau diesen Kunden erklärt, wie sie sich diesen Ablenkungen entziehen können. Das klingt für dich bigott? Geht mir auch so. Aber ich will nicht abschweifen 😉
Tatsächlich hat sich die Aufmerksamkeits-Krise in den vergangenen fünf Jahren verschärft. Nicht wenige moderne Menschen reagieren auf Benachrichtigungen, Mailings und grelle Farbgebung in den Apps und auf den Webseiten genervt. Und endlich gibt es ausreichend wissenschaftliche Forschung die zeigt, wie wir darunter leiden: Ablenkungen macht uns nicht nur unproduktiver, sondern auch unglücklicher. Auch das liest du bei Nir Eyal.
Deshalb zurück zur Frage, warum Aufmerksamkeit wichtiger als Achtsamkeit und Wissen ist: Es ist unmöglich, Achtsamkeit zu entwickeln oder Wissen aufzubauen, wenn man abgelenkt ist! Erst wenn wir bei einer Sache bleiben, können wir erfolgreich sein. Erst dann können wir die Aufgabe mit Konzentration, Fokussierung, Kreativität oder schlichtem Fleiß erledigen.
Also: Am Anfang ist die Aufmerksamkeit.
Zwei Formen von Aufmerksamkeit
So viele Lebens- und Business-Ratgeber wir kaufen: Unser Leben werden sie dann verbessern, wenn wir in der Lage sind, unsere Aufmerksam dorthin zu lenken, wo es wichtig ist.
Hilfreich dabei ist das Buch „Konzentriert arbeiten“ von Cal Newport. (alle Links zu den Büchern unten in den Quellen). Er erläutert darin ziemlich verständlich, wie wir Ablenkungen in unserem Leben ausschalten und in der dadurch entstehenden Zeit hart an unserer Karriere arbeiten. Das funktioniert ziemlich gut: Unterbreche für einige Stunden am Tag oder mehrere Wochen im Jahr alle Kommunikationskanäle, setze dir engagierte Ziele – und los! Jetzt gerade sitze ich an einem Rechner, bei dem die Software „Freedom“ alle Internet-Verbindungen gekappt hat. Und das hilft!
Sehr hilfreich sind auch die Gedanken von James Clear, der mit der „1 Prozent Methode“ detailliert erläutert, wie man es schafft, jeden Tag ein bisschen besser zu werden. Natürlich auch beim konzentrierten Arbeiten. Er empfiehlt dafür eine ablenkungsfreie, motivierende Umgebung, attraktive Ziele und liefert verhaltenstherapeutische Konzepte. Darin steckt sehr viel Wahrheit.
Und doch: Auch wenn Eyal, Calport und Clear die verdiente Aufmerksamkeit von vielleicht Millionen Buchkäufern haben – beleuchten sie nur einen Teil dieser menschlichen Energie. Sie erklären, wie man sich durch das Einrichten von Umgebungen, das Entwickeln von Gewohnheiten und das Zurückweisen von Aufmerksamkeits-Dieben wieder auf die Arbeit konzentriert. Sie versprechen, dass dadurch das Leben leichter, die Beziehungen entspannter und der Erfolg größer wird. Und sie haben recht.
Doch es gibt einen Teil, den sie nicht so gut erklären: die „offene Aufmerksamkeit“. Diese erklären Meditationsmeister wie der Dalai Lama oder Jack Kornfield und natürlich Autoren wie Jon Kabat-Zinn. Leider setzen sie Meditation häufig mit Achtsamkeit gleich: Zu Beginn ihrer Übungen fokussierst du dich auf einen Vorgang –etwa die Atmung oder ein inneres Bild. Das ist vergleichbar zur Konzentration, die auch Eyal, Calport und Clear propagieren. Dieser Schritt ist notwendig, doch die Meditation geht weiter: Ziel ist das offene Gewahrsein, also eine unfokussierte Aufmerksamkeit, bei wir nur noch beobachten, was gerade auftaucht. Das ist ungleich schwerer…
Überhaupt klingt das alles viel einfacher als es ist. Denn alle paar Sekunden geht deine Aufmerksamkeit spazieren, um sich Ablenkung zu suchen. Und beim Umherirren bleibt es nicht: Schon bei der ersten Abwechslung, etwa der Frage nach zu erledigenden den Besorgungen, biegt deine Aufmerksamkeit für längere Zeit auf diesen Pfad ab und geht einkaufen. Und wenn du schon unterwegs bist, kannst du gleich noch das Auto putzen und bei der Post Briefmarken holen. Ist ja bald Weihnachten. In diesem Jahr war der Urlaub besonders kurz, vielleicht doch mal wieder skifahren? Und so weiter und so weiter. Nicht das Auftauchen eines Gedankens ist bei offener Aufmerksamkeit ist ein Problem – sondern unser Verlangen, diesen zu bewerten und ihm zu folgen.
Ich fasse zusammen: Aufmerksamkeit kann zwei Zustände einnehmen.
- Die fokussierte Aufmerksamkeit. All den Reizen zum Trotz wenden wir unsere innere Taschenlampe auf genau einen Vorgang. Alles andere tritt in den Hintergrund.
- Die offene Aufmerksamkeit. Wir beobachten alle Kanäle (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten, Temperatur fühlen, Schmerzen, Gefühle, Gedanken) – ohne sie zu bewerten und ohne ihnen zu folgen.
Lass uns das eins fürs andere üben. Das jedenfalls funktioniert bei meinen Klient:innen am besten.
Übrigens: Natürlich lässt sich das viel leichter in einer reizarmen Umgebung bei einem Spaziergang durch den Wald oder bei einer Meditation üben. Doch geschult werden, soll der Umgang mit der Wahrnehmung und der Fokussierung im realen Leben. Das wird sich dann von selbst ergeben.
Kann man Aufmerksamkeit (wieder) lernen?
Eines der häufigsten Fremdwörter in den aktuellen Lebens-Ratgebern ist die „Neuroplastizität des Gehirns“. Das klingt wissenschaftlich, bedeutet jedoch nur, dass wir unsere gedanklichen Fähigkeiten wie einen Muskel trainieren können. Natürlich trainiert ein Verkäufer andere Hirnregionen als ein Rennfahrer; ein Wissenschaftler wird einen Text schneller lesen können als ein Fischer. Dieser kann auf unvorhergesehene Situationen schneller und kraftvoller reagieren. Und so hat jeder seine Stärken – und seine Schwächen.
Neuroplastizität bedeutet, dass diese Fähigkeiten (abgesehen von einem genetischen Anteil) erlernt sind. Und was erlernt ist, kann man wieder verlernen. Und dann wieder lernen und so weiter.
Glückliche Ex-Raucher wissen, was ich damit meine: So ekelhaft der Rauch für Jugendliche ist, meist ist es der Gruppenzwang, der sie zwingt, zu rauchen. Dann sind sie süchtig. Wer wieder damit aufhört, spürt drei Tage lang körperlichen Entzug – mehr nicht. Das eigentliche Problem ist die Neuroplastizität des Gehirns: Jede schöne Situation wurde durch den Dopamin-Flash, den Nikotin auslöst, noch schöner. Nun ist der Morgenkaffee, die Mittagspause, der Plausch mit Freunden in der Küche und die Fahrt im Auto irgendwie fad. Denn das Dopamin fehlt. Erst, wenn das Gefühl wie eine Gitarre wieder harmonisch „gestimmt“ ist, klingt die Lebensmelodie sogar noch schöner als zuvor. Aber das braucht Aufmerksamkeit, Übung und Geduld. Bis die „Sucht“ verlernt und das Belohnungssystem umprogrammiert ist. Dann bist du ein glücklicher Ex-Raucher. So wie ich.
Anders gesagt: Wir moderne Menschen sind süchtig nach Ablenkung. Wie wäre es, wenn man dank Aufmerksamkeit, Übung und Geduld die Fähigkeit zur Aufmerksamkeit wieder lernen könnte?
Das funktioniert so:
- Die Wahrnehmung der verschiedenen „Kanäle“ trainieren: die fünf Sinne, Emotionen und Gedanken.
- Deren jeweilige Trigger erkennen und würdigen.
- Lernen, die Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen davon zu lenken (fokussierte Aufmerksamkeit) oder alle Kanäle wertungslos zu beobachten.
Erst dann – wenn wir so unsere Aufmerksamkeit geschult haben – sind wir in der Lage, all die anderen Herausforderungen wie „Meditieren“, „Konzentrieren“, „Achtsamkeit“ und „Selbstoptimierung“ anzunehmen.
Übungen für das Aufmerksamkeits-Training
Kaum jemand kommt auf die Idee, einen aus der Form geratenen Körper über Nacht und mühelos fit zu bekommen. Wenn es um unseren Geist, unser Glück geht, werden wir auch nicht „mit drei Klicks“ zum besseren Menschen. Mehr als sieben Minuten täglich geben wir uns nicht, um so perfekt zu meditieren wie ein Guru. Und nicht einmal das bekommen wir täglich hin.
Also: Wenn wir aufmerksamer werden wollen, müssen wir unsere Gewohnheiten ändern. Und das ist mühsam. Sorry.
Hier sind die Übungen. Und wenn du heute damit startest, gehörst du zu den Menschen, für die konzentrierte Arbeit oder Meditation nicht nur ein Traum bleibt.
Übungen für die fokussierte Aufmerksamkeit
Es gibt einen guten Grund, warum in Meditations-Kursen zuerst gelehrt wird, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren: Das ist leichter als das offene Gewahrsein. Unser unruhiger Geist bekommt mit dem Atem etwas, an dem er sich festhalten kann. Und wenn er spazieren geht, weißt du sofort, wohin er zurückkommen soll. Das gilt auch für die fokussierte Aufmerksamkeit.
Wichtig zu wissen: Bei diesen Übungen geht es ausdrücklich nicht darum, die Aufmerksamkeit möglichst lange bei einem Vorgang zu halten. Wir wollen üben, den Geist – wenn er spazieren geht – zurückzuholen. Mehr nicht. Je häufiger er also abschweift, umso mehr übst du. Fühle dich also nicht schlecht, wenn deine Gedanken ständig abschweifen.
1. Ein Buch lesen
Natürlich! Wer Bücher liest, steuert damit seine Aufmerksamkeit. Und wenn du keine Lust auf Lesen hast und schon zum nächsten Punkt springen willst, weil du „keine Leseratte“ bist: Denke doch einmal über das Henne-Ei-Problem nach – also, WARUM du keine Leseratte bist. Und danach nimmst du dir genau deshalb vor, eines der Bücher, die ich in den Quellen genannt habe, zu lesen.
2. Die Atmung beobachten
Du kannst jede Meditations-App laden und anfangen. Oder du schließt – genauso, wie du gerade sitzt – die Augen und beobachtest deinen Atem. Wenn dich ein Gefühl, ein Gedanke oder ein Reiz von außen ablenkt, dann erinnere dein Bewusstsein an den Atem.
Das ist übrigens ein bisschen wie Joggen: Beim ersten Mal tut es irgendwie weh, aber wenn du häufiger trainierst, wird es leichter.
3. Rückwärts zählen oder buchstabieren
Beginne bei 100 und ziehe jeweils 7 ab bis nicht mehr genug übrig bleibt. Also „100, 93, 86…“. Wenn du das geübt hast, ziehe andere Zahlen ab oder beginne mit 200 und ziehe erst 9 dann 8 dann 7 und so weiter ab. Ebenso kannst du Wörter im Kopf rückwärts buchstabieren.
Das ist eine Übung, die du auch nebenher machen kannst. Vielleicht solltest du dabei nicht gerade mit dem Auto fahren. Es schadet aber überhaupt nicht, wenn du diese Übung in der U-Bahn machst oder wenn in einem Meeting der Chef eine seiner langweiligen Reden hält.
4. Apps zur Aufmerksamkeits-Schulung
- Neuronation ist eine App die in Zusammenarbeit mit der Charité, der Freien Universität Berlin und der Medical School Hamburg gebaut wurde und die dein Gehirn trainiert – und damit auch deine Aufmerksamkeit.
- Strop effekt und NBack sind zwei iPhone-Apps, die deine mentale Verarbeitung trainieren. Das ist – streng genommen – nicht nur „Aufmerksamkeit“ – aber passt sehr gut hier hinein.
5. Schönschreiben
Wann hast du Schreiben gelernt? Lerne es noch einmal! Klemm die Zunge zwischen die Zähne und versuch die Buchstaben so schön wie möglich zu schreiben. Denn lerne Schreiben mit der anderen Hand (Rechtshänder also mit der linken Hand und Linkshänder mit der rechten Hand).
6. Die Sinne trainieren
Das ist eine Vor-Übung für die offene Aufmerksamkeit. Du kannst sie gleich jetzt absolvieren: Suche dir einen bequemen aber aufrechten Sitz, schließe die Augen und gehe (jeweils etwa eine bis drei Minuten) deine Sinne durch. Was siehst du? (ja, mit geschlossenen Augen) Was hörst du? Was riechst du? Was schmeckst du? Was tasten deine Finger? Wie ist die Temperatur? Kannst du deinen Körper als Ganzes spüren? Zwickt oder drückt etwas im Körper? Tauchen Gefühle auf? Gedanken? Immer eins nach dem anderen. Danach atme einmal tief ein und wieder aus, öffne deine Augen und mach weiter, was du zu tun hast.
7. Divergente Wahrnehmung
Wenn du deine Sinne etwas trainierst hast, ist das die Übung für Fortgeschrittene:
- Du stehst auf der Straße zwischen LKW-Lärm, Baustelle und schreienden Kindern – was riechst und schmeckst du gerade?
- Du rennst gehetzt von einem Meeting zum anderen – welche Gedanken gehen dir gerade – wortwörtlich – durch den Kopf? Welchen Geschmack hast du auf der Zunge und hörst du die Vögel vor dem Fenster zwitschern?
- Der Zahnarzt setzt den Bohrer – was siehst du durch die geschlossenen Augen und welchen Geruch kannst du wahrnehmen?
Du hast das sicher verstanden: Hierbei geht es darum, die Aufmerksamkeit von einem sehr starken Reiz auf einen sehr schwachen Reiz zu lenken. Für Überraschungen ist dabei immer gesorgt 🙂
8. Den Körper auf „Aufmerksamkeit“ programmieren
Das klingt blöd – ist aber sogar eine Grundlage. Einerseits ist es natürlich sehr schwer, einer körperlichen Ablenkung zu widerstehen. Falls dir also die Nase läuft oder du Kopfschmerzen, wird deine Aufmerksamkeit auf eine harte Probe gestellt. Das kennst du. Deshalb ergeht hier der – sehr allgemeine – Ratschlag: Achte auf die Signale deines Körpers und gehe ihnen nach.
Es gibt aber auch andere Mittelchen, die Aufmerksamkeit zu unterstützen. Eine davon sind Nootropika, das sind alle möglichen Wirkstoffe und Nahrungsergänzungsmittel, die dein Gehirn „dopen“. Weil ich selbst da auf dünnem Eis unterwegs bin, empfehle ich den Artikel von Nicole Pilch, die bei Primal State bloggt.
Eine gute Idee, sich bei der Arbeit zu konzentrieren, sind auch ätherische Öle. Darüber habe ich in den vergangenen Monaten viel gelernt. Ich bin ein Fan der Düfte von DoTerra und für die Konzentration kommt bei mir – wie gerade eben – immer ein bisschen von der Fokus-Mischung InTune auf das Handgelenk.
Übungen für die offene Aufmerksamkeit
Diese Übungen schließen sich an das Training der Sinne an. Die offene Aufmerksamkeit oder das Gewahrsein zu üben, ist ebenso schwer wie spannend. Schließe nach diesem Absatz bitte einmal kurz die Augen und nimm wahr, was gerade in und um dich herum ist. Wenn du alles einmal benannt hast, kannst du die Augen wieder öffnen.
Und los!
Hast du die Übung wirklich gemacht? Sei ehrlich! Hast du alles, was in und um dich gerade war, wahrgenommen und benannt? Ich kann das fast nicht glauben – weil es sehr lange dauern würde und jede Wahrnehmung mit mindestens einem Gedanken verbunden ist. Denn unser Gehirn ist eine wahre Bedeutungs-Maschine: Alles, was wir sehen, riechen, fühlen, denken wird nicht nur wahrgenommen – sondern auch bewertet. Jeder Reiz, den wir wahrnehmen, bekommt ein Etikett und wird einsortiert. So sind wir eben. Das wird erst zum Problem, wenn wir wirklich alles wahrnehmen möchten – auch die stillen Reize. Doch genau das ist unser Ziel. Dazu müssen wir versuchen, zumindest die Bewertungen wegzulassen. Das hilft.
Ich kenne immerhin drei Übungen für das offene Gewahrsein. Natürlich gibt es hunderte Meditationen, in denen das auch ein Thema ist. Allerdings will ich diese hier nicht nachplappern. Dafür gibt ja die Apps und Anleitungen.
1. Tagträumen
Ja, richtig gelesen: Wer im Zug den Blick auf die Dämmerung richtet und nichts mehr scharf sieht, nimmt nur noch wahr. Schwierig ist es, diesen Zustand nicht nur einzunehmen (das ist ein bisschen, wie zu früh schlafen zu gehen), sondern ihn möglichst bewusst wahrzunehmen. Wie du das genau machst, kann ich dir nicht sagen. Das wirst du selbst entdecken. Ich kann dir aber raten, das möglichst häufig zu üben 🙂
2. Die Bühne der Sinne
Wenn du die Übung „Die Sinne trainieren“ einige male gemacht hast, kannst im Anschluss die offene Aufmerksamkeit üben. Du schließt wieder die Augen, gehst die Sinne, die Gefühle und Gedanken durch und eröffnest ihnen dann eine offene Bühne: Welcher Reiz wird diese zuerst betreten? Was wird er tun? Und wenn etwas, zum Beispiel ein Ton oder ein Bild, auftaucht, bewerte nicht und folge diesen Wahrnehmungen nicht. Halte weiterhin die gesamte Bühne im Blick – gespannt, wer nun auftritt.
Das mit der „Bühne“ ist nur ein mögliches Bild von vielen: Manche verbildlichen die Reize als Wolken, die über den Himmel ziehen oder setzen sie auf Blätter, die auf einem ruhigen Bach an ihnen vorbeischwimmen. Deshalb: Das ist dein Geist, das ist deine Wahrnehmung – entwickle dein eigenes Bild dafür. Nur das Prinzip sollte klar sein.
3. Schneller Rundgang
Wir haben ja nicht immer Zeit für etwas Tagträumen oder eine Aufmerksamkeitsübung. Vor allem, wenn uns gerade jemand so richtig auf die Nerven geht oder wieder mal alles schiefläuft, wäre es gut, mit etwas Abstand auf die Situation zu schauen. Dabei kann uns die offene Aufmerksamkeit helfen. Und mit etwas Übung kannst du dich tatsächlich von unerwünschten Emotionen (Hektik, Ärger, Sorgen) distanzieren.
Und das geht so: Wenn gerade möglich, schließe die Augen (das ist allerdings nicht notwendig) und gehe alle Kanäle durch. Deine fünf Sinne, den Herzschlag, die Atmung, die Gefühle, deine Gedanken. Wie stehst oder sitzt du gerade?
Gehe alles schnell durch. Bei dieser Übung geht es nicht um Qualität, sondern um Quantität. Also möglichst viele Kanäle/Sinne wahrnehmen und das mehrmals am Tag. Irgendwann erscheinen die Reize nicht mehr hintereinander, sondern gleichzeitig. Voilà!
Dann kannst du das immer wieder anwenden, wenn ein Reiz (zum Beispiel eine Wut oder ein Schreck) droht, dich zu überwältigen.
Ist das anstrengend? Ja!
Diese Übungen klingen viel einfacher als sie sind. Spätestens wenn du die offene Aufmerksamkeit übst, wirst du das Gefühl haben, den Rauch einer Kerze mit der Hand zu fangen.
Doch gib nicht auf. Denn es geht nicht um einen Erfolg wie etwa „zehn Minuten lang alle Sinne offen halten“ – sondern um das stoische Zurückkehrens nach eine Ablenkung. Das ist der Muskel, den du damit trainierst.
Und du wirst den Erfolg der Mühe spüren:
- Wenn du (fast) täglich übst, wird es dir zur Gewohnheit. Vielleicht sogar zu einer sehr angenehmen.
- Vielleicht wirst du nach etwas Zeit im Laufe des Tages einige Gerüche oder Töne wahrnehmen, die du sonst nicht aufgespürt hättest. Diese wären natürlich auch ohne üben da gewesen – doch du hättest sie nicht bemerkt.
- Vermutlich wirst du in einigen Situationen auch viel leichter eine angenehme Distanz zu ansonsten überwältigenden Reizen (lauter Straßenlärm, Ärger mit dem Chef) spüren.
- Wenn du ein Buch liest oder einem Vortrag lauschst, wird dir das in Zukunft leichter fallen.
- Endlich bekommst du die Chance den vielen Ideen aller Entwicklungs- und Selbstoptimierungs-Ratgeber zu folgen. Es wird dir leichter fallen zu meditieren, dich zu konzentrieren, deine Gewohnheiten zu ändern und so weiter. Natürlich nicht nur durch die erhöhte Fähigkeit zur Aufmerksamkeit. Aber diese ist eine Grundlage dafür.
Deshalb: Fang an!
Einige Quellen
- Nir Eyal, „Hooked“: Wie Unternehmen Produkte bauen die uns in ihren Bann ziehen.
- Nir Eyal „Die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen“: Wie wir uns gegen Produkte, die uns in ihren Bann ziehen, wehren können.
- Cal Newport „Konzentriert arbeiten“: Ein detaillierter Ratgeber, wie wir es wieder schaffen, konzentriert an einem Stück zu arbeiten.
- James Clear „Die 1 % Methode“: Jeden Tag ein bisschen besser. Ein Ratgeber, wie wir unsere Gewohnheiten ändern können.
- Jon Kabat-Zinn, „Gesund durch Meditation – das große Buch der Selbstheilung durch MBSR„: MBSR ist eine sehr strukturierte und sehr gut erforschte Achtsamkeits-Praxis mit sehr viel Meditation.
- Jack Kornfield, „Das weise Herz – Die universellen Prinzipien buddhistischer Psychologie“: Das ist vielleicht nicht das leichtest und einfachste Buch von Jack Kornfield. Er hat auch reine Meditationsratgeber.
- Meditation-Apps: Davon gibt es mittlerweile sehr viele. Ich denke, dass 7Mind und Calm die umfassendsten sind. Mir reicht ein einfacher Meditations-Timer. Schau bitte selber in den App-Stores.
- Freedom: Eine App für alle Geräte, mit denen du alle Verbindungen zu Ablenkungen unterbinden kannst.
- Neuronation: Eine App für alle Geräte, mit denen die grauen Zellen wieder zum Tanzen gebracht werden können.
- Blogbeitrag auf Primal State über Nootropika.
Der „Contentman“ hier und mein Newsletter dort sind meine Spielwiesen und digitale Chancen, meine Gedanken auszudrücken. Lange Jahre war ich Journalist – habe also vielleicht ein bisschen Tinte in meinem Blut. Mein Geld verdiene ich als Produktentwickler im Wort & Bild Verlag. .
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