Eine Kunst: Ein Haiku ist eine uralte Gedicht-Form aus Japan. Man sagt, dass die alten Meister mehrere Jahre an den rund 17 Silben eines solchen Haikus gearbeitet haben. Das klingt heutzutage schrägt – ist aber einer der Gründe, warum ich dir das Haiku-Schreiben ans Herz legen will.
Was ist ein Haiku?
Der „Haiku“ (jap. 俳句; Plural: Haiku, auch: Haikus) ist die vielleicht kürzeste Poesie-Form der Welt. Im 13. Jahrhundert in Japan entwickelt, haben Haikus auch in westlichen Ländern eine lange Tradition. Ihre wichtigsten Eigenschaften sind die knappe Form (meist drei Zeilen, zusammen etwa 17 Silben) und eine konkrete Gegenwärtigkeit verbunden mit einem Gedankenblitz.
Während traditionelle japanische Haiku-Dichter wie Matsuo Bashō (1644–1694) oder Masaoka Shiki (1867–1902) sehr lyrisch daher kommen ist die deutsche Szene lebendiger, pragmatischer und heute natürlich moderner. Einige der Autoren sind in der Deutschen Haiku-Gesellschaft organisiert.
Traditionelle Beispiele aus Japan:
Der alte Weiher:
Ein Frosch springt hinein.
Oh! Das Geräusch des Wassers.
Matsu Bashō
Ein klassisches Beispiel aus Deutschland:
Der Bauer pflügt den Acker.
Wer
Wird die Ernte einbringen?
Bertolt Brecht
Ja, richtig gelesen: Bertolt Brecht. Auch andere andere deutsche Autoren und Dichter (darunter Rilke) haben ihre Gedanken gelegentlich in kurzen japanischen Verse formuliert.
Die Magie der Haikus: Ob japanisch oder deutschsprachig, die Ästhetik dieser Lyrik liegt nicht nur in ihrer Kürze. Zwar ist das Reduzieren der Gedanken auf wenige Silben eine gute Übung für Wortwahl, Originalität und „Framing“. Eigenschaften, die übrigens auch auf Twitter, Facebook und in Headlines gefragt sind.
Ein zusätzlicher Zauber entfaltet sich jedoch über die traditionelle Konkretheit und die Fokussierung auf den Augenblick eines Haikus. Wer sich durch gelungene Beispiele liest, wird an Haikus hängen bleiben, die
- dem Leser nur das Notwendigste sagen,
- nicht kommentieren,
- das Wesentliche im Kopf entstehen lassen und
- sprachlich einfach formuliert sind.
Das Entwickeln von Metrik und Rhythmus steht im Hintergrund. Wer mit Haikus beginnt, sollte sich auf eine möglichst einfache und klare Sprache konzentrieren. Die „Eleganz“ entfaltet sich von selbst.
Her die Schnellstart-Anleitung für deinen ersten Haiku:
- Der Haiku hat 17 Silben,
- verteilt auf drei Zeilen (5-7-5).
- Der Inhalt bezieht sich auf die Gegenwart,
- enthält meist „Natur“-Wörter
- und deutet das Wesentliche nur an.
UND: Wir sind hier unter Erwachsenen – alle Regeln dürfen also auch mal gebrochen werden.
Darum lohnt es sich, Haikus zu schreiben
Bis auf die lyrische Form und die Naturverbundenheit enthält die Haiku-Poesie alles, was was man in reduzierten Textformen wie Twitter oder in Teasern brauchen kann: Mit nur wenigen Worten einen Geistesblitz auslösen.
Und genau darum geht es ja: Beobachte dich selbst, wenn du Postings auf Facebook oder eine Headline in der Süddeutschen liest. Du lächelst innerlich und fühlst dich dem Autor verbunden . Wie stark das ist, lässt sich sogar biologisch erklären: Immer wenn wir einen Zusammenhang verstehen, spendiert das Gehirn zur Belohnung das Hormon Dopamin. Das fühlt sich gut an – und ist vergleichbar mit der Wirkung einer Tasse Kaffe oder dem Nikotin einer Zigarette – ist aber viel gesünder 😉
Warum dann aber Haikus schreiben und nicht gleich mit Tweets üben? Weil du darin – ganz ohne Druck – deine Ideen ausprobieren kannst. Wenn du (völlig „sinnlos“) Gedanken und Wörter für ein Gedicht (!) durch den Kopf schiebst, Formulierungen prüfst und überlegst, was du weglassen kannst, dann denkst du frei – und nicht an deine Facebook-Freunde oder Follower. Die 17 Silben kannst du dabei im Kopf behalten – du hast dein Trainings-Tool also immer bei dir.
Wie man einen Haiku schreibt
Neben den formalen Aspekten (siehe oben) ist das Verfassen des Haikus also Übungssache. Hier einige Tipps, wie du das möglichst ruckelfrei bewältigst:
- Lass dich zu einem Thema inspirieren. Dafür brauchst du nicht viel Zeit – aber deine ganze Aufmerksamkeit. Unternehme einen Spaziergang oder schließe die Augen und schau, was auftaucht. Was interessiert dich? Hast du „überflüssige“ Gedanken übrig, die dich berühren? Genieße es, diesen zu folgen. Bedenke: Du brauchst für deinen Haiku keine großartige „Story“, sondern „nur“ einen Gedanken – es geht um die Übung, nicht um deine Follower. Vielleicht siehst du also auf dem Spaziergang eine überraschende Szene oder hinter deinen geschlossenen Augen taucht ein Gedanke auf, der mit „Was wäre wenn…“ beginnt. Behalte und pflege diese Idee. Töte sie nicht durch logisches Analysieren. Vielleicht entwickelt sich daraus ein anderer Gedanke. Mal sehen.
- Sammle Worte rund um das Thema. Hast du das Thema, vermeide, ganze (womöglich grammatikalisch korrekte) Sätzen zu bilden. Notiere passende Begriffe, Assoziationen, Adjektive, Gedanken und Halbsätze zum Thema. Beschäftige dich damit. Wohin führt die Idee? Habe den Mut, auch mit unpassenden Wörtern zu jonglieren und gewonnene Einsichten zu verwerfen. Lass deine Seele herumspielen und gib dir Zeit.
- Fang mit einer Zeile an, dann die nächste. Häufig hat ein Haiku drei Zeilen, in der ersten steht oft ein Wort zur Lebensumwelt (vielleicht aus der Natur). In der zweiten Zeile wird das Thema umschrieben und in der dritten blitzt so etwas wie eine Überraschung auf. Das kann – aber muss nicht so sein. Am Anfang hilft es dir, einen Anfang zu machen. Aus einem Wort einen Halbsatz, daraus eine Zeile zu machen. Sag, was zu sagen ist – oder beginne damit, was du nachher weglassen willst. Denke dabei einfach – aber noch nicht über die Länge oder die Eleganz des Haikus.
- Sag es nicht! Wenn deine Wörter, Gedanken und Zeilen das sagen, was zu sagen ist, nimm alles weg, was dem Leser erklärt oder kommentiert. Halte die Angst aus, dass dein Haiku missverständlich wird – denn genau dann bist du auf dem besten Weg.
- Liegen lassen, verwerfen, liegen lassen… – lernen! Zum Glück wird es nun darum gehen, deinen Haiku zu veröffentlichen. Denn er braucht noch Zeit. Schlafe drüber und lies ihn (oder rufe ihn aus dem Gedächtnis auf). Dann ändere, was zu ändern ist. Lies ihn – in ein oder zwei Wochen wieder. Ändere oder verwerfe ihn. Gehe zurück auf Start. Nimm wahr, was dir daran gefällt und was du ändern möchtest.
Kurz gesagt: Du wirst möglicherweise niemals mit auch nur einem Haiku zufrieden sein. Aber die Arbeit daran wird deine Achtsamkeit, deine Selbstkritikfähigkeit und nicht zuletzt deine Formulierungs-Fähigkeiten schulen.
Wie man möglichst schnell zu einem schlechten Ergebnis kommt
Natürlich gibt es auch eine Reihe von Stolpersteinen, über die jeder stolpert. Wenn ich aus den Übungsergebnissen meiner „Kreativ schreiben“-Teilnehmer der vergangenen Jahre aufzählen sollte, was die Haikus zerstört hat, kommt diese Liste zusammen:
- „Ich“: Es geht nicht um dich. Ein Haiku hat keinen Autor – also lasse dich selbst außen vor.
- Erklären, kommentieren: Du stellt die Welt dar, wie sie ist. Der Gedankenblitz passiert im Kopf des Lesers. Und wenn jeder Leser einen anderen hat – umso besser!
- Klischees, Metaphern, Wortspielereien: KEIN Reim, KEIN Vergleich, KEINE Metapher. Niemals. Bitte! Keine originelle Bilder! Nicht im Haiku!
- Romantik, Zeigefinger oder Gejammere: „Zeigen nicht beschreiben“ ist die Aufgabe. Du willst keine Botschaft vermitteln, niemanden zu besserem Tun auffordern.
Wo veröffentlichen?
Bevor wir über das „WO“ nachdenken, erst einmal etwas zum „WARUM“: Hier auf dem Contentman gibt es zwei Welten. Die eine ist für die Publizisten. Hier lernen wir, wie gute Headlines geschrieben werden, warum WDF-IDF wichtig sein könnte und sogar ein bisschen Grammatik. In der „Storyfication“-Welt schreiben wir nur für uns. Weil Schreiben für einige Menschen der direkteste Weg zur Selbsterkenntnis und zum Glück ist.
Das Schreiben von Haikus ist etwas für beide Welten. Wer die 17-Silber schreibt, um sich selbst zu erkunden, wird schnell zu einem Ziel kommen. Lass dich überraschen, wie sich diese Poesie verändert und welcher Haiku noch nach Monaten in deiner Erinnerung bleibt. Und natürlich werden DIESE Haikus in deinem Tagebuch aber kaum auf Twitter veröffentlicht.
Und das gilt für die Publizisten-Welt ähnlich: Denn wer veröffentlicht schon einen Haiku auf Facebook? Ich würde mich zwar darüber freuen – aber es ist nicht Ziel dieser Übung. Nein: Es ist die Übung, die dir hilft. Oder vielleicht auch die Möglichkeit, einen Text noch einmal gänzlich zu verwerfen, nach Monaten daran zu feilen, wirklich das beste daraus zu machen. Diese Zeit nehmen wir uns – normalerweise – im Schreiballtag nicht. Aber es hilft. Und Poesie sowieso.
Der „Contentman“ hier und mein Newsletter dort sind meine Spielwiesen und digitale Chancen, meine Gedanken auszudrücken. Lange Jahre war ich Journalist – habe also vielleicht ein bisschen Tinte in meinem Blut. Mein Geld verdiene ich als Produktentwickler im Wort & Bild Verlag. .
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